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Turner Philipp Boy über gefährliche Sprünge nach nächtelangen Partys, das Erwachsenwerden und den schwierigen Weg ins Rampenlicht hinter dem großen deutschen Star Fabian Hambüchen


Herr Boy, noch bevor wir in diesem Café in Cottbus bestellen konnten, hat Ihnen schon ein zufälliger Gast herzlich gratuliert. Ist das der neue Ruhm nach dem Gewinn von WM-Silber im Mehrkampf bei der Turn-WM im November?

Das passiert schon öfter. Es ist ja auch sehr schön, dass man öfter erkannt wird. In Berlin hat mir in einem Restaurant der Kellner gesagt: „Mensch, ich habe Sie irgendwo schon gesehen, im Fernsehen glaube ich.“ Witzig. Es ist schön, dass jetzt mehr Leute Turnen wahrnehmen. Wir haben nun eine größere Chance, Turnen in die Medien zu bringen. Davor hat uns, oder besser gesagt mich, doch keiner groß beachtet.

Und bei der „Sportlerwahl des Jahres“ in Baden-Baden haben Sie dann neben Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel gesessen. Hat da der Vize-Weltmeister im Turnen den großen Formel-1-Weltmeister bewundert?

Na, bewundert habe ich ihn nicht. Sportler gehen da miteinander sehr unaufgeregt um. Aber die öffentliche Wahrnehmung ist bei ihm natürlich enorm, dagegen bin ich ein kleines Licht. Neben ihm hat ja auch André Lange gesessen, der vierfache Olympiasieger im Bob. Der stand auch in Vettels Schatten. Vettel ist jetzt einfach der bekannteste Sportler in Deutschland. Aber vor allem ist er ein Riesentyp, das ist mir viel wichtiger. Er hat Persönlichkeit, steht mit beiden Beinen auf der Erde. Das muss man erst mal hinkriegen.

Im Kunstturnen werden Sie so einen Hype nie erreichen.

Nein, natürlich nicht, das muss einem aber auch immer klar sein. Ich versuche einfach, noch mehr an die Weltspitze heranzukommen. Da orientiere ich mich an dem Japaner Kohei Uchimura, dem derzeit Weltbesten. Vettel und Sie sind gleich alt, 23 Jahre. Aber er lebt in einem ganz anderen Umfeld. Können Sie etwas von ihm, von seiner Art, mit Druck umzugehen, übernehmen? Ich kann von ihm lernen, wie man nicht abhebt. Er ist einem ganz anderen Druck ausgesetzt als ich, aber er fühlt sich nicht als etwas Besseres, das ist so imponierend an ihm. Am besten ist es, wenn man über jemanden sagt: Der ist sympathisch, der war erfolgreich und ist trotzdem nicht abgehoben.

Waren Sie geistig auf die Silbermedaille vorbereitet, weil Sie wussten, irgendwann werde ich dieses Ding gewinnen?

Hm, es war einerseits schon ein überwältigendes Gefühl, mit WM-Silber auf dem Podest zu stehen, damit hätte ich nie gerechnet.

Aber …

… aber andererseits war ich natürlich grundsätzlich auf einen Erfolg vorbereitet. Ich habe ja auch heftige Dinge erlebt, da sagt man sich: Schlimmer kann’s nicht mehr kommen. Jetzt kann’s nur noch aufwärts gehen.

Sie denken vermutlich an Peking, die Olympischen Spiele 2008?

Ja, da bin ich am Reck abgestiegen und turnte am nächsten Tag eine Übung, bei der ich im Finale Silber gewonnen hätte. Oder die Deutschen Meisterschaften in Berlin, kurz vor der WM. Da habe ich mein letztes Gerät versemmelt und der Sieg im Mehrkampf war weg. Das Gute aber war: Ich hatte dann so viel Wut im Bauch, die mir bei der WM genutzt hat.

Jetzt haben Sie Silber. Macht Sie das reifer? Fühlen Sie sich jetzt als der Mann, der nicht mehr bloß an der Weltspitze anklopft?

Naja, es gibt ja den schönen Spruch: Durch nichts reift man so gut wie durch Niederlagen. Das trifft’s auch bei mir. Ich musste mich immer wieder rankämpfen. Du wirst nach jeder Enttäuschung auch härter, du sagst dir: Das kann es doch nicht gewesen sein, irgendwann muss doch mal der Tag X kommen. Dann trainierst du noch konzentrierter und bereitest dich noch besser vor. Gereift bin ich eigentlich schon in der jüngeren Vergangenheit. Vor allem meine vielen Verletzungen haben mich härter gemacht.

Sie haben 2009 eine Lehre zum Bankkaufmann abgebrochen. War diese Entscheidung auch Teil eines Reifeprozesses?

Die Entscheidung war schlichtweg notwendig. Als ich noch Azubi war, zogen bei den Deutschen Meisterschaften Leute an mir vorbei, die waren sonst immer hinter mir. Da denkst du dir: Mensch, du turnst, seit du vier bist. Im Turnen wollte ich immer Erfolg haben. Also musste ich etwas ändern.

Sie gingen zur Sportfördergruppe der Bundeswehr.

Genau, seither geht es auch aufwärts. Ich habe jetzt endlich genug Zeit für den Sport. Training bedeutet ja nicht bloß, dass man am Reck hängt, da gehört auch Physiotherapie dazu, der Kraftraum, undundund. Da kommen schon ein paar Stunden am Tag zusammen. Heute morgen bin ich zum Beispiel sieben Kilometer durch den Schnee gejoggt.

Die Weltklasseschwimmerin Britta Steffen studiert, weil sie einen geistigen Ausgleich zum Sport braucht. Ihnen half die Konzentration auf den Sport?

Offensichtlich ist es so.

Sie haben mal gesagt: Der Mythos Fabian Hambüchen ist schwer zu knacken. Aber ich möchte ihn knacken. Wie weit sind Sie davon entfernt? Er ist Reck-Weltmeister sowie WM-Dritter und Olympiadritter an diesem Gerät. Sie sind Vize-Weltmeister im Mehrkampf.

Er war als Erster da, er hat eine andere Philosophie. Fast jeder kennt Hambüchen. Bei Boy ist das noch nicht so. Man kann nur im direkten Duell, wenn er nach seinen Verletzungen wieder Mehrkampf turnt, herausfinden, wer der Bessere ist.

Hambüchen hat vor drei Monaten seine Biografie veröffentlicht. Sie haben ihn dafür stark kritisiert. War der Grund für diese Kritik, dass es ziemlich albern ist, wenn ein 22-Jähriger sein Leben ausbreitet oder dass wieder mal Hambüchen alle Aufmerksamkeit absorbiert?

Das ist völlig allein seine Sache.

Sie sind zwar gereift, aber es gibt bestimmt Athleten, die noch nervenstärker sind als Sie. Von wem können Sie sich noch einiges abschauen?

In erster Linie von Uchimura, dem Mehrkampf-Weltmeister aus Japan. Der hat einen wahnsinnigen Druck, weil jeder von ihm Gold erwartet. Japan ist im Turnen sehr erfolgsverwöhnt. Aber der bleibt total ruhig, egal was passiert. Beim Japan-Cup im Juli haben die den wegen des Fernsehens fünf Minuten vor dem Reck warten lassen. Da dreht normalerweise jeder Turner durch. Der nicht. Der stand ganz gelassen da, unglaublich. Dann hat er seinen Arm gehoben und eine perfekte Übung geturnt. Das begeistert mich. Das ist für mich das absolute Highlight.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie zeitlich und körperlich an der Grenze sind? Mehr Training geht nicht?

Doch, mehr geht. Alles eine Frage, wie man sich schindet. Wenn ich lese, der Golfprofi Martin Kaymer trainiert acht Stunden am Tag, da fragt man sich: Wie macht der das? Ich trainiere fünf Stunden, ich bin komplett ausgelaugt danach. Aber dann denke ich mir: Okay, nehme ich mir eine Vier-Stunden-Einheit vor. Wo sind meine Grenzen? Das möchte ich schon wissen. Vor kurzem war mir schlecht im Kraftraum, da war ich an meiner Grenze. Aber es hat auch Spaß gemacht. Ich bin mit einem Lächeln raus und habe gesagt: Ey, geiles Gefühl.

Aber wo sind die Grenzen bei Flugelementen?

Schwer zu sagen. Man bereitet sich ja langsam auf schwierige Übungen vor. Aber wenn man die unter Wettkampfbedingungen trainiert, kann es schnell sein, dass man eine Reckstange im Gesicht hat. Oder du landest falsch, weil du zu viel Schwung hattest. Aber solange nichts Ernsthaftes passiert, ist alles zu ertragen. So eine kleine Prellung im Gesicht geht schnell weg.

Sie sind jetzt 23. Turnen Sie anders als mit 16 oder 17 Jahren?

Vollkommen anders. Ich gehe nicht mehr so lax an die Geräte. Dafür hatte ich zu viele Verletzungen. Es ist total frustrierend, wenn du auf den Punkt null zurück geschossen wirst und dort wieder anfangen musst.

Ronny Ziesmer ist bei einer Bodenübung querschnittsgelähmt worden. Er stürzte bei der Olympiavorbereitung 2004 in der Sportschule Kienbaum schwer. Sind Sie dadurch auch reifer geworden?

Als ich das gehört hatte, sind mir sofort die Tränen gekommen, weil ich ein sehr gutes Verhältnis zu Ronny habe. Er kommt ja auch aus Cottbus. Im ersten Moment dachte ich: Ich höre auf mit Turnen. Aber der Unfall geschah bei einem Element, ein Doppelsalto rückwärts, bei dem nie jemand gedacht hatte, das könne man nicht turnen. Aber Ronny hatte sich nicht hundertprozentig fit gefühlt, er ist mit der Hand auch noch weggerutscht. Da kamen mehrere Faktoren zusammen. Aber die Lehre war: Man darf nie turnen, wenn man nicht richtig fit ist. Ronny ist ein ganz tragisches Beispiel für die Gesetze im Leistungssport.

Haben Sie aufgrund von Ziesmers Unfall auch mal kurzfristig eine Übung entschärft?

Ja, das ist Teil des Reifeprozesses. Wenn ich das Gefühl habe, heute turne ich diese superschwere Reckübung nicht, dann turne ich sie nicht. Da steht auch mein Trainer dahinter, der weiß, wie groß das Risiko ist.

Wenn Sie diese Erfahrungen an jüngere Turner vermitteln, hören die Ihnen zu?

Ja. Ich bin für ein paar durch meine Erfolge ja doch eine Art Vorbild. Und ich gebe ihnen mit, was ich jetzt fühle, nicht, was ich früher gemacht habe. Das würde auch nichts bringen. Ich war früher ein Chaot.

Wie war denn der Chaot Boy?

Der Chaot Boy war bis morgens um 5 Uhr bei einer Party und hat um 9 Uhr in der Halle schwierige Übungen gemacht. Da greife ich mir heute an den Kopf und sage: Wie bescheuert warst du denn? Oder wenn ich einfach Elemente geturnt habe, ohne groß über das Risiko nachzudenken. Ich habe auch am Trampolin Dinge ausprobiert, bei denen hat’s mich derart aus dem Tuch geschmissen, dass alles zu spät war.

Das heißt, als Leistungssportler haben Sie nicht groß unter Verzicht gelitten?

Ich war halt ein typischer Jugendlicher. Ich fand es aufregend, das Nachtleben kennenzulernen. Ich war auf der Sportschule, da gibt’s auch andere Sportler, die so ticken wie du. Man muss seine Jugend ein bisschen genießen können. Heute sage ich, das brauche ich nicht mehr in dem Maße wie damals. Aber früher, da war ich Freitag und Samstag auf Party und am Sonntag ging’s ab in die Halle.

Das Gespräch führte Frank Bachner vom Tagesspiegel